Dunja Reiber – Autorin

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#2 Nomaden

Dieser Ort war ein Klischee. Und jeden Tag wurde Sandra selbst ein Stück mehr zu einem. Mit jedem Matcha Latte, den sie mit Blick auf die Palmen vor ihrem Laptop trank, passte sie besser zu dem Bild, das ihre Familie und ihre Freunde zu Hause von ihr hatten. Das Bild der digitalen Nomadin, die den ganzen Tag barfuß und in Shorts herumsitzt, hippe Getränke trinkt und dazwischen ein bisschen arbeitet, wenn sie Lust darauf hat.

Sie ließ die Augen über die anderen Menschen im Coworking Space schweifen, die alle in einer Reportage über Remote Work hätten auftreten können. Der Surfertyp mit den von der Sonne blondierten Locken, das Influencerpärchen mit der teuren Kamera und die Grafikdesignerin, bei der man mehr Tattoos sah als Hautfarbe.

Sandra hatte das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören. Ihre Klamotten waren zu brav, ihre Haare hatten eindeutig zu wenig Salzwasser abbekommen und ihr Job war zu langweilig. Während andere als Freelancer kreativ waren oder als Coaches angeblich fünfstellige Umsätze pro Monat einfuhren, machte sie Kundensupport. Und das noch nicht mal für ein spannendes Software-Start-up, sondern für einen Versand von Küchengeräten. 

Man konnte diesen Job wahrscheinlich nur deshalb remote erledigen, weil sich sonst niemand gefunden hätte, der ihn machen wollte. Außerdem war die Zeitverschiebung sogar ein Vorteil: Wenn Sandra arbeitete, war es in Deutschland Nacht. Und überraschend viele Menschen kamen mitten in der Nacht auf die Idee, ihre neue Küchenmaschine auszuprobieren, und wollten sich dann über die Rücksendebedingungen informieren.

Früher hatte Sandra in der Pflege gearbeitet. Nach ihrem Burnout wollte sie nicht mehr zurück. Sie wollte so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und ihr altes Leben bringen. Und jetzt war sie hier: Auf Bali, dem Sehnsuchtsort aller hippen Mittzwanziger. Dabei war sie so gar nicht hip und Mitte dreißig. In den Cafés und im Coworking Space fühlte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben alt.

Plötzlich tauchte Made neben ihr auf, stellte einen Matcha Latte auf ihren Tisch und riss sie damit aus ihren Gedanken. Er lächelte sie an. An jedem Arbeitstag trank sie mindestens drei Matcha Latte und Made hatte einen sechsten Sinn dafür, wann sie einen brauchte. Sie musste noch nicht einmal bestellen.

Wenn Sandra abends nach Hause ging, bezahlte sie und unterhielt sich ein paar Minuten mit ihm. Sie wusste, dass Made mit seiner Familie in einem Haus in der Nähe lebte und den Coworking Space mit seinem älteren Bruder Wayan führte. Dass Wayan älter war, merkte man schon an den Namen der Brüder: Fast alle Balinesen geben ihren Kindern dieselben Namen: Wayan, Made, Nyoman und Ketut, in dieser Reihenfolge.

„Gleich kommt noch ein Mann aus Deutschland“, erzählte Made ihr auf Englisch. „Er hat angerufen und wollte wissen, wie schnell unser Internet ist und ob er einen festen Arbeitsplatz für die nächsten Wochen reservieren kann.“

Er schüttelte mit einem amüsierten Lächeln den Kopf. Dieses Verhalten passte gar nicht zu dem der anderen Leute, die dort arbeiteten. Sie saßen jeden Tag an einem anderen Platz und waren extrem entspannt mit allem, was ihre Arbeit betraf.

„Das klingt für mich ziemlich deutsch“, antwortete Sandra und kam sich im Vergleich plötzlich fast schon cool vor.

Eine halbe Stunde später war er da: der andere Deutsche. Er stieg etwas umständlich von seinem Rollertaxi, nahm den Helm ab und gab ihn dem Fahrer nicht zurück. Also hatte er sich seinen eigenen Helm gekauft. Bestimmt aus hygienischen Gründen. Wirklich sehr deutsch, dachte Sandra.

Er meldete sich bei Made an und suchte sich einen Platz in der Ecke aus, auf dem niemand seinen Bildschirm sehen konnte. Dort packte er seinen Laptop aus und baute seine eigene Maus und Tastatur (beides ergonomisch) auf.

Sandra beobachtete ihn verstohlen. Er trug ein kurzärmeliges kariertes Hemd und eine eckige Brille, was ihn aussehen ließ wie der Prototyp eines IT-Menschen. Seine dunklen Haare waren kurz geschnitten und sie glaubte, eine Spur von Grau darin zu entdecken. Sie schätzte ihn auf ähnlich alt wie sie selbst. Vielleicht sollte sie zu ihm gehen und sich vorstellen?

Doch bevor sie ihn ansprechen konnte, setzte er riesige Noise-Cancelling-Kopfhörer auf und vertiefte sich in seine Arbeit. 

Ein paar Stunden später traf sie ihn am Wasserspender und fragte: „Du kommst auch aus Deutschland, oder?“

Er nickte nur, während er sein Glas füllte.

„Wie bist du auf diesen Coworking Space gekommen?“, fragte sie weiter, weil ihr nichts Besseres einfiel.

„Er hatte die besten Bewertungen. Stabiles Internet. Halbwegs ergonomische Stühle“, erwiderte er.

Als Sandra den Mund öffnete, um eine weitere Frage zu stellen, schnitt er ihr das Wort ab: „Ich muss wieder an den Schreibtisch. Meine Zeiterfassung läuft noch.“

Okay, dann eben nicht, dachte sie und setzte sich ebenfalls wieder. Sie wusste noch nicht einmal seinen Namen.

In den nächsten Tagen war der Nerd (so nannte sie ihn in ihrem Kopf) immer schon früher da als sie und machte genau eine Stunde vor ihr Feierabend. Sie sprach ihn nicht mehr an, aber sie beobachtete ihn mit einer Faszination, die sie sich selbst nicht erklären konnte.

Wie sie selbst war er anders als die anderen Menschen im Coworking Space. Aber es schien ihm nichts auszumachen. Er schien es noch nicht einmal zu bemerken.

Etwa eine Woche später verließ sie das Gebäude und sah ihn am Straßenrand stehen. Die Augen auf sein Handy gerichtet und einen leicht verzweifelten Ausdruck im Gesicht.

„Alles okay?“, fragte sie ihn und er zuckte erschrocken zusammen.

„Nicht ganz“, sagte er, als er sich erholt hatte. „Ich habe Probleme, ein Rollertaxi zu bekommen. Alle verfügbaren Fahrer genügen meinen Qualitätsstandards nicht. Ich fahre nur mit Fahrern, die mindestens 4,8 Sterne haben.“

Er tippte weiter auf seinem Display herum.

„Wie lange wartest du schon hier?“, erkundigte Sandra sich überrascht.

„Etwa eine Stunde. So schwierig war es noch nie.“

„Du könntest mit mir fahren“, sagte sie und deutete auf ihren Roller.

Er musterte sie skeptisch.

„Hast du 4,8 Sterne?“

„Nein, natürlich nicht. Aber ich weiß, was ich tue“, antwortete sie.

Als er sich nicht rührte, ging sie schulterzuckend zum Roller, nahm betont langsam ihren Helm heraus und schob ihn auf die Straße. Dann warf sie ihm einen letzten fragenden Blick zu.

„Okay“, seufzte er und kam auf sie zu. „Du bist Deutsche. Das zählt.“

Er nannte ihr sein Guest House, das ziemlich nah bei ihrem lag, und stieg hinter ihr auf. Steif wie eine Schaufensterpuppe saß er auf dem Sitz und klammerte sich an den Haltegriffen hinten fest, anstatt die Hände an ihre Seiten zu legen. Zum Glück war der Weg nicht sehr weit, denn er ging so wenig mit in die Kurven, dass sie sich unsicher fühlte.

„Bist du sicher, dass die Fahrer hier dich nicht einfach alle blockiert haben, weil du der schlechteste Rollerbeifahrer bist, den sie jemals hatten?“, fragte sie, als sie vor seiner Unterkunft standen und er abgestiegen war.

Er runzelte die Stirn und sie erwartete eine genervte oder beleidigte Reaktion.

„Fast sicher“, sagte er dann und ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus. „Genau kann man das natürlich nicht wissen.“

Erst als Sandra bei ihrem Guest House hielt, merkte sie, dass sie schon seit ein paar Minuten ununterbrochen grinste.

Auf ihre gemeinsame Fahrt folgte ein Wochenende. Als sie am Montag zu arbeiten begann, kam er an ihren Tisch und sagte:

„Ich möchte dich zum Essen einladen. Als Dankeschön, dass du mich mitgenommen hast. Morgen Abend, im Restaurant hier nebenan?“

„Lass mich raten, weil es 4,8 Sterne hat?“, fragte sie und er richtete ertappt den Blick zu Boden.

„Ich bin übrigens Sandra“, fügte sie hinzu.

„Frank“, erwiderte er und streckte ihr zögernd seine Hand hin. „Wie dumm von mir. Als ob du mit jemandem essen gehen würdest, dessen Namen du nicht kennst.“

Sie sagte zu und am nächsten Abend saßen sie in einem modernen balinesischen Restaurant und aßen Nasi Campur, Reis mit verschiedenen Beilagen.

„Warum bist du eigentlich hier?“, fragte sie ihn nach einer Weile. „Du wirkst nicht so, als wäre das alles hundertprozentig dein Ding. Die Spontaneität, das Rollerfahren, das Street Food. Das, weswegen die meisten Leute herkommen. Stattdessen planst du alles durch und suchst dir die Sachen aus, die kalkulierbar und gut bewertet sind. Wärst du dann in Deutschland nicht glücklicher?“

„Vielleicht wäre ich das“, erwiderte er. „Aber ich mache das für meine kleine Schwester. Sie wollte nach ihrem Studium durch Südostasien reisen. Dann wurde bei ihr Leukämie diagnostiziert. Sie hat sich gewünscht, dass ich ihre Reiseroute mache, während sie gesund wird. Ich schicke ihr eine Postkarte von jedem Ort. Sie sagt, dass ihr das hilft.“

Sandra wusste nicht, was sie sagen sollte. Deshalb berührte sie nur ganz leicht seine Hand und nickte.


Sandra und Frank beendeten gemeinsam seine Reise für seine Schwester und kehrten dann nach Deutschland zurück. Inzwischen sind sie seit zwei Jahren zusammen und reisen immer wieder nach Bali. Zuletzt vor einem knappen Jahr gemeinsam mit seiner Schwester.