#1 Zur richtigen Zeit auf der falschen Party
Der Rauch war grau und wenn jemand die Fernbedienung für die LED-Schläuche in die Hand bekam, wurde er rot, grün oder lila. Lisas Blick glitt über die dreißig oder vierzig Menschen, die sich in der Küche um den Kühlschrank drängten und sich im Flur gegenseitig auf die Füße traten. Alle kannten sich. Und sie kannte niemanden.
War sie hier richtig? Sie hätte gern jemanden gefragt, aber die Musik war zu laut. Mel hatte ihr bei der Arbeit die Adresse gegeben und gesagt: Einfach die Treppe hoch, du kannst es nicht verfehlen. Sie war die Treppe hochgegangen und der Musik gefolgt. Aber Mel war nicht da. Und auch niemand, den Lisa sich in ihrem Freundeskreis vorstellen konnte.
Mel war eine effiziente Jurastudentin mit kurzen blonden Haaren und hellblauen Blusen, die sie niemals kennengelernt hätte, wenn sie nicht beide als Barista in derselben Kaffeekette gejobbt hätten. Mel, um ihr Studium zu finanzieren. Lisa, um ihr Leben zu finanzieren, während sie herausfand, ob sie nach zwei abgebrochenen Bachelors das Thema Studium nicht einfach aufgeben sollte. Zwei nach dem vierten Semester abgebrochenen Bachelors. Vielleicht war sie einfach nicht gut darin, zu erkennen, wenn etwas nicht zu ihr passte.
Diese Party schien zu ihr zu passen. Jedenfalls besser als die, die sie sich vorher ausgemalt hatte. In ihrem Kopf waren da lauter Menschen mit eckigen Brillen und teuren Schuhen gewesen, die über Paragrafen diskutierten. Im Hintergrund klassische Musik und am Kühlschrank ein ausgedruckter Putzplan, der die spiegelnden Fenster und die makellosen Oberflächen in der Küche erklärte.
Das hier war allerdings eine ganz typische WG. So typisch, dass sie schon fast ein Klischee war. Der Boden klebte ein bisschen, am Kühlschrank hingen so viele Postkarten, Flyer und Zettel, dass er kaum zu sehen war, und überall standen Aschenbecher. Lisa fühlte sich wohl. Okay, bis auf die Aschenbecher und den Rauch, der über allem hing.
Jemand drückte ihr ein Bier in die Hand und sie trank. Ihre Position im Rahmen der Tür zwischen Flur und Küche sorgte dafür, dass sie ständig angerempelt wurde. Aber sie kam dort nicht weg, es war zu voll. Ihre Augen suchten weiter nach Mel oder nach jemandem, der ein Mitbewohner von ihr sein konnte. Ohne Erfolg. Etwas stimmte hier nicht. Entweder hatte Mel etwas falsch gemacht oder sie.
„Du siehst lost aus“, rief eine Stimme neben ihr über die Musik hinweg.
Sie drehte sich um und schaute in zwei helle Augen, in denen sich die LEDs spiegelten. Gerade waren sie lila. Darüber dunkelbraune oder schwarze Locken und darunter ein dunkler Bart, der ein amüsiertes Lächeln umspielte.
„Lost?“, fragte Lisa verwirrt.
„Manchmal trifft ein englisches Wort es einfach besser, findest du nicht? Was hätte ich sonst sagen sollen? Verloren, verirrt? Passt beides nicht so ganz.“
Er zuckte mit den Schultern und nahm einen Schluck Bier.
„Ich suche meine Kollegin, Mel. Die wohnt hier. Glaube ich zumindest“, erklärte sie und merkte selbst, wie zweifelnd das klang.
„Keine Ahnung“, sagte er. „Ich kenne nicht die ganze WG. Aber auch keine Mel.“
Weil es so laut war, beugten sie sich zueinander, wenn sie etwas sagten. Lisa konnte seine Wärme spüren.
Sein Blick glitt forschend über ihr Gesicht, konzentriert, als würde er etwas suchen.
Er trug einen schlichten schwarzen Hoodie mit ein paar weißen Linien auf der Brust, die eine Form bildeten. Vielleicht ein Logo.
„Wo wärst du jetzt, wenn du überall sein könntest?“, fragte er.
Einen Moment lang dachte sie, dass sie sich verhört hätte. Bestimmt hatte er etwas anderes gefragt.
Auf den Partys, auf denen sie sonst war, fragten Menschen: Wie heißt du? Was studierst du? Woher kennst du den Gastgeber? Aber nicht: Wo wärst du, wenn du überall sein könntest?
Sie sagte nicht: Im Bett, mit einer Packung Schokoladeneis.
Stattdessen sagte sie: „In New York.“
„Was würdest du dort machen?“, wollte er wissen.
„Vielleicht wäre ich auch auf einer WG-Party, auf der ich niemanden kennen würde. Aber dort wären alle hipper angezogen und würden Englisch sprechen. Und die Stadt um uns herum wäre riesig und würde leuchten. Deshalb würde es sich besser anfühlen.“
Sein Lächeln wurde etwas breiter.
„Und du?“, fragte sie.
„Vielleicht finde ich es hier auf dieser WG-Party ganz gut“, antwortete er. „In dieser mittelmäßigen Stadt, die fast nie leuchtet, wo alle Deutsch sprechen und langweilig angezogen sind.“
Einen Moment überlegte sie, ob sie ihn und seine Freunde beleidigt und als langweilig bezeichnet hatte. Aber er lächelte immer noch, mit Lippen und Augen.
„Kommst du mit auf den Balkon?“, fragte er. „Auch wenn es hier keine Skyline gibt.“
Lisa nickte und sie schoben sich nacheinander durch die Küche.
Draußen war es leerer. Nur ein paar Menschen standen dort und redeten. Ihr Atem stieg in weißen Wölkchen in die Novemberluft auf.
„Hey“, sagte er zu einem Typen, der am Geländer stand und aussah, als wäre er dort zu Hause. „Wohnt Mel hier?“
Der Typ schüttelte den Kopf und dachte dann kurz nach. „Mel wohnt in der WG über uns, glaube ich. Die feiern heute auch.“
Der Mann mit dem schwarzen Hoodie und den ungewöhnlichen Fragen lachte.
Er griff in den Kasten neben sich, öffnete zwei Flaschen und hielt Lisa eine hin.
„Oder willst du lieber nach oben zu der Party, auf der du eigentlich sein solltest?“
„Vielleicht später“, sagte sie lächelnd und nahm das Bier.
Lisa und der Mann im Hoodie waren nur ein paar Monate ein Paar. Trotzdem ist sie dankbar für den Zufall, der sie damals auf die falsche Party geführt hat.