#3 Work-Love-Balance

Lea konnte es nicht glauben. Ihr neuer Kollege hatte sie einfach für eine Kundenpräsentation eingeplant, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen. Dabei hatte sie Wochenziele zu erfüllen, die schon ohne den Zusatztermin und seine Vorbereitung ambitioniert waren.

Sie atmete einmal tief durch und tippte in ihr Chatprogramm: “Können wir kurz darüber sprechen? Jetzt in der Küche?”

Als er zustimmte, marschierte sie entschlossen auf die andere Gebäudeseite in die große Küche der Berliner Agentur, in der eine Tischtennisplatte und ein Tischkicker standen. Große Glasfronten öffneten sich zu einem grauen Foyer hin, das selbst im Sommer nie richtig warm wurde.

Er wartete schon auf sie. Jakob. Seit einigen Wochen arbeitete er erst hier. Sie hatte sich nur einmal kurz mit ihm unterhalten und wusste fast nichts über ihn. Nur, dass er für den Kundenkontakt in einem Projekt zuständig war, an dem sie auch arbeitete. Er war groß, trug eine Brille und hatte kurze dunkle Haare.

Sie setzte sich ihm gegenüber an den langen, hohen Tisch und erklärte bestimmt: “Das geht so nicht. Du kannst mich nicht für Termine einplanen, ohne das vorher mit mir und meiner Teamleitung zu besprechen. Das bringt unseren gesamten Plan durcheinander.”

Er schaute sie überrascht aus großen grün-braunen Augen an.

“Tut mir leid, das wusste ich nicht”, erklärte er. “Meine Einarbeitung war etwas oberflächlich, das hat mir niemand gesagt.”

Er schaute auf seine Hände und biss sich auf die Lippe. War er nervös? Egal. Lea musste ihren Standpunkt deutlich machen.

“Dann weißt du es jetzt”, erwiderte sie, stand auf und ging zurück an ihren Schreibtisch.

Als sie am nächsten Montag eine ausführliche Nachricht von Jakob bekam, in der er die nächsten Aufgaben schilderte und sie nach den am besten passenden Terminen fragte, lächelte sie. Und es tat ihr fast ein bisschen leid, dass sie so barsch zu ihm gewesen war.

Ein paar Wochen später sprach sie auf einer Firmenfeier lange mit ihm. Zwischen lauter Musik und bunten Lichtern erfuhr sie, dass er aus Süddeutschland kam und seinen sicheren Job bei einem mittelständischen Unternehmen auf dem Land aufgegeben hatte, um in der Großstadt Neues zu lernen und sich zu entwickeln. Das gefiel ihr.

Als er sie zwei Monate später fragte, was sie in ihrem bevorstehenden Sabbatical vorhatte, gingen sie in der Mittagspause zusammen essen. Lea erzählte ihm in einer überfüllten und viel zu warmen Pizzeria von ihrer geplanten Reise durch Spanien und er berichtete ihr von seinen Reisen und Lieblingsorten. Beide stellten fest, dass sie sich eine Zukunft ausmalten, in der sie ortsunabhängig arbeiten würden und viel Zeit hätten, die Welt zu sehen.

Sie gingen wieder zusammen essen. Jedes Mal fühlte Lea sich danach irgendwie leichter und kehrte mit einem Lächeln auf den Lippen an ihren Schreibtisch zurück.

Man kann so toll mit ihm reden, dachte sie. Was für ein netter Kollege.

Manchmal schrieben sie sich tagsüber im Chatprogramm der Arbeit.

Wie geht es dir heute?

Welche Musik hörst du gerade?

Wie war dein Wochenende?

Und immer musste Lea lächeln, wenn sie die rote Zahl neben seinem Namen sah, die ihr zeigte, dass er geschrieben hatte.

Einmal wollten sie sich wieder zum Mittagessen verabreden und fanden keinen passenden Termin in der Woche.

“Wir müssen nicht immer zu Mittag essen”, schrieb Jakob. “Wir könnten auch nach Feierabend einen Wein trinken gehen.”

In diesem Moment spürte Lea ein Kribbeln, das aus ihrer Herzgegend hinunter in ihren Bauch schoss. Dieses Gefühl kannte sie sonst nur aus der Schiffschaukel auf dem Jahrmarkt. 

Oh, dachte sie. Vielleicht ist er mehr als nur ein netter Kollege.

Die beiden verabredeten sich nach der Arbeit und gingen in eine Bar, die Jakob vorgeschlagen hatte. Sie saßen nebeneinander an der Theke, tranken Highballs mit großen Eiswürfeln und manchmal berührten sich ihre Hände zufällig. Oder vielleicht nicht ganz zufällig. Sie sprachen über Musik, die Arbeit, Reisen und ihre Wünsche und Träume.

Irgendwann war es spät. Sehr spät. Sie hatten beide nicht zu Abend gegessen und einige Drinks gehabt. Denn sie hatten beide immer mehr bestellt, weil sie nicht wollten, dass der Abend endete. Widerwillig verließen sie die Bar und standen auf der Straße.

“Ich möchte noch nicht nach Hause”, sagte Lea. “Wollen wir uns ein Bier kaufen und uns ans Wasser setzen?”

Es war März, mitten in der Nacht und kalt. Aber Jakob sagte ja.

Sie saßen auf einer Bank und schauten aufs Wasser, die Hände um ihre kalten Bierflaschen gelegt. Die Lichter spiegelten sich auf der schwarzen Oberfläche. Sie hörten Musik und zeigten sich gegenseitig Songs, die ihnen etwas bedeuten. Immer abwechselnd, jeder mit einem Kopfhörer im Ohr. Die Kälte spürten sie nicht.

Irgendwann lag Jakobs Arm auf der Lehne der Bank hinter Leas Rücken.

Kurz danach lag Leas Kopf auf Jakobs Schulter.

Und dann bewegten sich ihre Lippen wie magnetisch aufeinander zu. Sie konnten nicht mehr aufhören, sich zu küssen.

“Ich habe eine Beziehung”, sagte Lea irgendwann.

“Ich auch”, sagte Jakob.


Aber sie trafen sich weiter. Gingen spazieren oder etwas trinken. Hielten sich an den Händen und küssten sich. Unter einem Baum im Park. Auf der dunklen Treppe einer Bar. Oder in einer kleinen Seitengasse.

“Besuchst du mich in Spanien?”, fragte Lea irgendwann.

Er nickte.

Lea wollte Spanien entdecken, doch die meiste Zeit verbrachte sie damit, an Jakob zu denken. Sie schickte ihm Bilder von allem, was sie sah. Von bunten Eiskugeln, streunenden Katzen und romantischen Graffitis. In unzähligen Nachrichten und stundenlangen Gesprächen teilte sie ihre Erlebnisse mit ihm und beide fieberten dem Tag entgegen, an dem sie sich wiedersehen würden.

Am Flughafen war Lea schwindelig vor Aufregung. Sie zählte die Minuten. Nach einer gefühlten Ewigkeit stand Jakob vor ihr. Sie fuhren mit dem Taxi in die Stadt, hielten sich an den Händen und waren einfach nur glücklich.

In einer Gasse in Barcelona sagte Jakob Lea am nächsten Tag zum ersten Mal, dass er sie liebte.

Die beiden wussten, dass sie zusammen leben wollten. Es gab gar keine Alternative.

Als Jakob abreiste, schaute Lea in den Himmel und suchte nach seinem Flugzeug. Sie fühlte sich so, als hätte jemand alle Energie aus ihrem Körper gesaugt.

In den nächsten Wochen war Jakob immer in ihren Gedanken und nur einen Anruf entfernt, wenn sie seine Stimme hören wollte. Ihre Nachrichten hätten Bücher füllen können. Sie teilten Geschichten aus ihrer Vergangenheit miteinander. Und sie malten sich ihr gemeinsames Leben in der Zukunft aus.

Jakob beendete seine Beziehung und als Lea nach Hause kam, trennte auch sie sich von ihrem Partner und zog bei Jakob ein.

Mittlerweile sind Lea und Jakob seit über fünf Jahren zusammen und verheiratet. Sie leben nicht mehr in Berlin, sondern in einer kleinen Stadt in Süddeutschland. Wann immer sie können, reisen sie durch die Welt.

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#2 Nomaden